Multimedia Erziehung Fernsehen als Lebenshelfer in der Erziehung

Angel

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Familie und Erziehung als Quotenbringer

Familie und Erziehung haben im Fernsehens derzeit Konjunktur. Allen voran versorgen "Super-Nanny" (RTL) und "Super-Mamas" (RTL 2) die Fernsehnation mit schnell erfassbarem Know-how in Sachen Kindererziehung. Die Quoten v. a. von "Super-Nanny" sind durchgängig beachtlich. Fünf Millionen begleiteten den Start im September 2004, die Anfang Mai 2005 (4.5.) ausgestrahlte Folge brachte es auf 4,3 Millionen, was gut 15% der zur entsprechenden Zeit fernsehenden Menschen ausmachte und damit eine Steigerung der Zuwendung bedeutet. Die "Super-Mamas" scheinen hingegen rückläufig zu sein. Anfang Oktober 2004 (7.10.) hatten sie fast 2,4 Millionen Zuschauer (8%), Anfang Mai 2005 (2.5.) waren es über eine Million weniger und nur noch 3,9%.

Auffällig ist bei beiden Sendungen der hohe Anteil von Kindern, die sich die Erziehung ihrer Generation ansehen. Am 4.5.2005 versammelte "Super-Nanny" 19% der 3- bis 13-Jährigen, das waren 310.000 Kinder, den "Super-Mamas" schauten am 2.5.2005 100.000 Kinder zu. Der hohe Kinderanteil könnte bedeuten, dass Eltern ihre Kinder zur Warnung mit diesen Sendungen konfrontieren nach dem Motto "wenn du nicht spurst, kommt die 'Super Nanny' ". Die anderen Sendungen, die Familie und Kindererziehung im Stil des Affektfernsehens thematisieren, wie z.B. "We are family" (PRO 7) oder die Variante für werdende Eltern "Mein Baby" (RTL) sind was die Zahl der Zuschauer angeht im Hintertreffen. Als Orientierungsvorlagen für Familienleben und familiäre Konfliktbewältigung gut verwertbar sind außerdem die Sendungen "Frauentausch" (RTL 2), "Familiengericht" (RTL) und unter dem Fokus, Gefahrenvermeidung in Haushalt und Kinderalltag immer wieder auch "Notruf" (RTL) sowie zahlreiche Beiträge der diversen Boulevardmagazine.

Jenseits des Affektfernsehens wird das Bedürfnis von Eltern nach Orientierung und Rat in Bezug auf Kindererziehung und Familienalltag mit Ratgebersendungen v. a. in den Dritten Programmen bedient. Beispiele sind "Service Familie" (HR), "Servicezeit: Familie" (WDR), die "Elternsprechstunde" (BR) oder einzelne Dokumentationen, z.B. aus der Reihe "37°" (ZDF). Hier werden einschlägige Themen ohne Effekthascherei, dafür mit Respekt vor den involvierten Menschen behandelt.

Die Zuwendung zu Fernsehsendungen, die Erziehung thematisieren, offenbart einen Bedarf an Hilfe und Beratung und sie verweist auf die Erwartung, die Medien dafür nutzbar machen zu können. Verwunderlich ist das nicht. Denn einerseits ist Erziehung ein komplexer Prozess, verbunden mit Anstrengung und oftmals mit Überforderung. Andererseits sind Medien wichtige Informations- und Orientierungsquellen. Das gilt in besonderem Maße für das Fernsehen, in jedem Haushalt zu finden, für viele die Hauptquelle, um sich über die Welt und das Leben außerhalb ihres unmittelbaren Erfahrungshorizonts Kenntnis und Meinung zu verschaffen, und mit der für Anschaulichkeit prädestinierten Verknüpfung visueller und verbaler Symbolsysteme ideal für niedrigschwellige Angebote. Was aber bedeutet es, wenn ein so wichtiges Medien wie das Fernsehen die Ratgeberfunktion in Sachen Erziehung mit Angeboten wie der "Super-Nanny" befriedigt?


Was läuft falsch bei "Super-Nanny"?

RTL reklamiert hehre Motive für die Ausstrahlung von "Super-Nanny": "RTL will mit diesem Format einerseits den betroffenen Familien eine Hilfestellung bieten, andererseits aber auch dem Zuschauer anhand von unterschiedlichen Fällen Lösungsansätze für Probleme in der eigenen Familie aufzeigen." (www.rtl.de/ratgeber/familie 20.6.2005) Dieser Anspruch wird vehement in Frage gestellt: Verbände wie der Deutsche Kinderschutzbund, der Paritätische Wohlfahrtsverband, die deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie haben Stellungnahmen gegen die Sendung veröffentlicht. Fachleute aus Pädagogik, Psychologie, Erziehungsberatung, Kinder- und Familientherapie verwahren sich gegen das Bild, das der Öffentlichkeit hier von Erziehungsprozessen sowie von pädagogischen und therapeutischen Tätigkeitsfeldern vermittelt wird. Die Argumente gegen Formate wie die "Super-Nanny" sind zahlreich und vielfältig. Drei Aspekte sind m. E. besonders gravierend.


Kinder werden vorgeführt:

Was immer das im Fokus stehende Kind tut, die Kamera hält drauf, zeigt sein Handeln und seine Mimik im Detail, wenn es tobt, brüllt, heult, wenn es sich gegen die verbalen und körperlichen Übergriffe der Erwachsenen wehrt, wenn es verzweifelt, verängstigt, traurig oder völlig aufgelöst ist. Das Kind ist Objekt ohne jede Intimsphäre. Die Kamera hält sogar fest, was die Eltern nicht sehen können. Das Ganze wird - zusammengeschnitten unter dem Primat des Unterhaltungswertes - einem Millionenpublikum vorgeführt. Die Eltern, die dazu - aus welchen Gründen auch immer - ihr Einverständnis gegeben haben, missbrauchen ihr Erziehungsprivileg, bestärkt durch eine vorgeblich erfahrene Pädagogin. Sie, die qua Profession um die Problematik dieser öffentlichen Prostitution von Kindern wissen müsste, missbraucht eben diese Profession, um der Verantwortungslosigkeit der Eltern Vorschub zu leisten.


Kinder wie Eltern werden diskriminiert:

Die Diskriminierung hat viele Facetten. Sie wird z.B. deutlich in den Off-Kommentaren: Kinder werden hier mit Begriffen wie "Satansbraten" bedacht oder der Familienalltag und das Verhalten des Kindes werden mit dramatisierender Wortwahl - oft untermalt mit bedrohlicher Musik - als unerträglich oder gar gefährlich dargestellt. Die Diskriminierung wird des weiteren deutlich in Verhaltensweisen und Interventionen der "Super-Nanny": Sie schüttelt den Kopf über die Familienverhältnisse, posaunt ihr Entsetzen über Eltern- und Kinderverhalten unverblümt in die Kamera, redet in Anwesenheit der Kinder mit den Eltern über sie und was mit ihnen zu geschehen hat, kritisiert das Verhalten der Eltern in Anwesenheit der Kinder. Sie stört (und zerstört) die Eltern-Kind-Interaktion als eine Art übergeordnete Macht. Und schließlich wird die Diskriminierung durch das Gesamtbild, das die Sendung zeichnet, deutlich: Das Kind ist primär böse, verhaltensgestört, nervig. Die Eltern machen primär Fehler. Auf andere Seiten der beteiligten Personen, ihrer Interaktion, ihres Zusammenlebens, ihres sonstigen Soziallebens wird kaum Zeit verwendet.


Erziehung ist reduziert auf Dressur und Gehorsam:

Die Hauptingredienzien der Erziehung, die "Super-Nanny" postuliert, sind Regeln und Konsequenz. Mit ihrem Regelwerk (auch zum Download auf www.rtl.de angeboten) hält sie Einzug in die Familien, stülpt sie Eltern wie Kindern über und startet ein Training nach dem Muster ‚Eltern ordnen an, Kinder gehorchen'. Bleibt der Gehorsam aus, werden die Eltern angehalten, die Kinder zur Raison bringen, und zwar mit Penetranz und Härte, die durchaus körperliche Übergriffe umfasst. Insbesondere in das als eine Art Allheilmittel stilisierte "stille Zimmer" werden die Kinder geschoben, gezerrt, geschleift, getragen und wenn sie raus wollen, wird kurzerhand die Tür zugehalten. Die "Super-Nanny" steuert die Eltern direkt oder per Knopf im Ohr, verordnet ihrerseits Art und Wortlaut der erzieherischen Intervention. Ein exemplarische Szene: Mutter zu ihrem Sohn: "Bleib jetzt bitte sitzen". "Super-Nanny": Lass das ‚Bitte' weg, klare, kurze Ansagen" (20.10.2004). Wenn das Kind angesichts der überlegenen Erwachsenen aufgibt, dann verkündet die "Super-Nanny" Erfolg. In welchem Zustand das Kind sich befindet, ist uninteressant, auch dann, wenn Verletztheit oder Verzweiflung unübersehbar sind. Das primäre Erziehungsziel Gehorsam ist durchgesetzt und das zählt.


Was können Sendungen wie "Super-Nanny" anrichten?

Auf der einen Seite hat die öffentliche Preisgabe des Privatlebens vor der Fernsehnation immer individuelle Folgen für die Betroffenen, im Fall von "Super-Nanny" für die zur Schau gestellten Kinder, die Eltern, die übrigen Familienmitglieder und das weitere familiäre Umfeld. Für sie ist eine langfristig wirksame Stigmatisierung in Betracht zu ziehen. Denn das öffentlich gemachte Familienleben und Verhalten der Familienmitglieder, die Stigmatisierung durch Kommentare und fernsehgerechte Dramatisierung - all das wurde nicht nur einem anonymen Publikum präsentiert, sondern auch im näheren und weiteren sozialen Umfeld verfolgt. Wie wird dem in Extremsituationen gezeigten Kind danach z.B. in Kindergarten und Schule begegnet? Wie wird es später, als Jugendlicher oder Erwachsener, auf seine öffentliche Zurschaustellung reagieren? Angesichts der Auswahl der Fälle, die von bildungsmäßig und sozial weniger privilegierten Milieus dominiert ist, ist nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass die Eltern sich mit solchen Fragen ausreichend auseinander gesetzt haben. Es gehört überdies insgesamt nicht zu den Alltagskompetenzen abzuschätzen, was es heißt, sich in einem Massenmedium zu prostituieren.

Auf der anderen Seite impliziert die Orientierungsfunktion des Fernsehens, dass solche Sendungen zur Verbreitung zweifelhafter medialer Vorgaben in realen Lebensvollzügen beitragen können. Im Fall von "Super-Nanny" betrifft das insbesondere Vorstellungen von Familienleben und Erziehung. Unter diesem Fokus ist erstens die Unterstützung vorurteilsbehafteter und verzerrter Vorstellungen in Bezug auf Familienleben und Erziehungsberatung bedenklich. Die präsentierten Fälle vermitteln ein Bild vom Alltag mit Kindern, das aufgrund der Extrembeispiele und der Einseitigkeit der Darstellung eigentlich nur abschreckend ist. Was dabei als Erziehungsberatung verkauft wird, ist schon unter zeitlichen Aspekten irrealistisch. Inhaltlich erinnert es an Kasernenhofdrill und Tierdressur, ist gegenüber Kindern und Eltern respekt-, seelen- und lieblos. Eltern, die nicht bereit sind, ihre Kinder als Monster und Feinde zu betrachten, werden sich hüten, auf eine solche Erziehungsberatung zurückzugreifen, auch wenn ihnen die Schwierigkeiten mit dem Nachwuchs über den Kopf wachsen.

Der zweite bedenkliche Aspekt resultiert aus dem Umgang mit Kindern. Kinder werden zur Schau gestellt und zu Objekten degradiert, über die eine Erwachsenenwelt verfügen kann, wenn nötig dürfen sie auch mit harten Mitteln "geformt" werden. Hier werden die Rechte von Kindern missachtet - und das mit Tolerierung oder gar auf Verordnung einer vorgeblichen Fachautorität. Das in der "Kinderrechtskonvention" (gilt in Deutschland seit 1992) enthaltene Recht auf gewaltfreie Erziehung wird so konterkariert. Ein dritter bedenklicher Aspekt betrifft die Art der Erziehung, die hier als richtig und nachahmenswert propagiert wird. Die praktizierte Gehorsamkeitspädagogik betrachtet Kinder als Befehlsempfänger, die über Drill funktionsfähig gemacht werden sollen. Ihre Bedürfnisse und Sichtweisen sind allenfalls zweitrangig. Erziehung wird als einseitiger Akt dargestellt. Interaktive Beziehungsarbeit auf dem Fundament von Liebe und Fürsorge kommt nicht vor. Diese Art von Erziehung passt - darauf verweisen einige KritikerInnen - in eine gesellschaftliche Situation, in der Tendenzen zu autoritären Strukturen zu vermerken sind und das Ideal des lenkbaren, angepassten Bürgers wieder Zuspruch erfährt. Dass autoritäre Erziehung der Ausbildung des autoritären Charakters Vorschub leistet, ist eine insbesondere von Vertretern der Kritischen Theorie ausführlich argumentierte Erkenntnis. Die Propagierung autoritärer Erziehungspraktiken läuft demokratischen Prinzipien zuwider.


Voraussetzungen medialer Erziehungsberatung

So problematisch Sendungen wie "Super-Nanny" sind, so sehr offenbart der Zuspruch, den sie finden, den Wunsch von Eltern nach Unterstützung bei ihren Erziehungsaufgaben. Medien können im Prinzip dazu beitragen und sie bieten einige Vorteile. So kann das Fernsehen mit niedrigschwelligen Beratungsangeboten viele Menschen erreichen, sie informieren, ihr Problembewusstsein schärfen oder sie auf reale Hilfen aufmerksam machen. Es gibt gute Beispiele für diese Art von Beratungsfernsehen, v. a. in den öffentlich-rechtlichen Sendern, in Elternratgebern, Magazinen und einzelnen Dokumentationen. So widmet sich z.B. eine Sendung der ZDF-Reihe "37°" dem Thema Erziehungsberatung ("Chaos im Kinderzimmer", 26.4.2005). Auch hier werden verschiedene Fälle vorgestellt und die Erziehungsberaterinnen werden bei ihren Familienbesuchen begleitet, Eltern und Kinder sind präsent im Bild und mit Worten. Aber hier wird das m. E. für mediale Beratung entscheidende Kriterium eingehalten, nämlich Kindern und Eltern mit Respekt zu begegnen, auf verbaler und auf audiovisueller Ebene. Zudem wird ein realistisches Bild vermittelt, so wird etwa betont, dass Veränderungen in der Familie nur langfristig zu erwarten sind, und es wird eine Beratungspraxis gezeigt, die darauf ausgerichtet ist, die Interaktion zwischen Eltern und Kindern zu befördern, Erklärungen für Schwierigkeiten zu finden und gegenseitiges Verständnis zu unterstützen. Die Aussage einer Erziehungsberaterin verdeutlicht den Unterschied zur "Super-Nanny": "Konsequenz in der Erziehung ist nicht alles, es geht auch um Einfühlungsvermögen, nicht um Rechthaberei." Solche Sendungen gehen sensibel mit bedrückenden Problemen um und sie können genau deshalb Eltern Mut machen, sich bei familiären Schwierigkeiten professionelle Hilfe zu holen.

Ein weiterer Vorteil ist die Anonymität, in der Ratsuchende bleiben können, wenn sie auf medialen Wegen Hilfe suchen. Insbesondere die Möglichkeiten des Internets gehen dabei über die Grenzen der Massenmedien hinaus. Das Internet bietet allgemeinen Zugang zu verschiedenartigen Beratungsthemen sowie einen niedrigschwelligen, zeitunabhängig und unmittelbar zu realisierenden Zugang zur Beratung. Es erlaubt individuelle Hilfe via Email oder im Zwei-Personen-Chat oder den Austausch von Betroffenen über Gruppenchats und thematische Foren. Diese Möglichkeiten werden von einschlägigen Verbänden und Institutionen genutzt und kontinuierlich ausgebaut. Exemplarisch sei auf die Angebote der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. verwiesen, z.B. die www.bke-elternberatung.de . Ein wichtiges Prinzip ist, dass Internetberatung im Verbund mit einem real existierenden Beratungssystem erfolgt, dieses nicht ersetzt, sondern ergänzt. Damit ist der Wechsel von medialer zu realer Beratung zu gewährleisten. Denn Beratung auf medialem Weg hat Grenzen und diese müssen für die Ratsuchenden transparent gehalten werden.

Egal über welche Medien Ratsuchende bedient werden, vorrangig müssen sie sich - wie reale Beratungsangebote auch - an dem zugrunde liegenden Erziehungsverständnis messen lassen. Erziehung ist ein langer, komplexer und wenn er gelingt, sehr schöner Prozess wechselseitigen Verstehens und voneinander Lernens. Eltern wie Kinder gestalten ihn mit ihren Stärken, Kompetenzen und persönlichen Eigenheiten im Kontext des familiären Systems. Wird dieser Prozess gestört, brauchen alle Akteure Hilfe, um angemessene Lösungen zu finden und sie gemeinsam zu leben. Mediale Erziehungsberatung, die von diesem Verständnis ausgeht, wird sich von jeder Art von Rezepten fernhalten und statt dessen sensibel Wege zu Selbsthilfe aufzeigen.


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